Der große Ikigai-Irrtum und was wirklich dahinter steckt
1. Was heißt Ikigai?
Ikigai ist ein japanischer Begriff, der aus iki (= leben) und gai (= Sinn, manchmal liest man auch: Wert oder Nutzen) zusammengesetzt ist. Er beschreibt somit den Sinn, den Wert des Lebens: Das, was uns nachhaltig motiviert,
- morgens aufzustehen,
- uns zu engagieren,
- Zeit, Energie, Übung, Wissen zu investieren,
- Perfektion anzustreben,
- uns selbst zu erkunden, zu entwickeln und zu verwirklichen;
- und auch, was uns wachsam sein lässt, für die kleinen Alltagsfreuden und wofür wir dankbar sind.
2. Was bedeutet Ikigai?
Ikigai bezeichnet eine innere Haltung, ein Wertesystem, eine Lebenseinstellung. Damit geht die Idee weit über die Fragen der beruflichen Erfüllung hinaus. Sie ist eingebettet in den individuellen Lebensstil, der durch die fünf Säulen des Ikigai getragen ist:
Die 5 Säulen des Ikigai:
- Klein anfangen
- Im Hier und Jetzt sein
- Die Freude an kleinen Dingen entdecken
- Loslassen lernen
- Harmonie und Nachhaltigkeit leben
3. Vier Irrtümer über Ikigai
3.1 Der Sinn des Lebens liegt im Beruf
Ikigai wird im ursprünglichen Sinne nicht unbedingt auf das Berufsleben bezogen.
Dein Ikigai kannst Du auch im Familiären finden oder im Hobby oder Ehrenamt oder einfach in einem „perfekten Moment“, in dem Du - vielleicht auch nur ganz kurz - das Gefühl hast von: „Jetzt stimmt Alles.“
Das schließt natürlich nicht aus, dass Ikgai in einer beruflichen Tätigkeit zu finden ist.
Aber die meisten Artikel, Veröffentlichungen, Erklärungen mit der Beschränkung auf den Beruf werden der Alltags-Philosophie des Ikigai nicht gerecht.
Ikigai ist eine individuelle Reise zur Selbsterkundung.
Und kein Abzählreim für eine berufliche Karriere mit Erfolgsgarantie.
3.2 Ikigai ist eine Erfolgsstrategie
Ikigai ist unabhängig von finanziellem Erfolg, Anerkennung oder positiver Bewertung von außen.
Ikigai ist eine Geisteshaltung und keine Strategie, um etwas Bestimmtes zu erreichen.
Wer sein Ikigai in einer Tätigkeit gefunden hat, verrichtet diese jenseits von finanziellen Notwendigkeiten und Erfolgsdruck.
Ikigai ist die komplexe Reise zu Dir selbst.
3.3 Nur mit Ikigai kann ich im Beruf zufrieden werden
Ein großer Teil unserer Lebenszeit ist auch Arbeitszeit.
Daher streben wir an, dass diese 8 – 10 Stunden, die wir täglich im Job sind, oder in denen wir uns gedanklich mit beruflichen Themen beschäftigen, auch angenehm, zufriedenstellend und sinnstiftend sind.
Wir wollen uns mit den beruflichen Tätigkeiten identifizieren können, uns ausleben ohne uns verbiegen zu müssen.
Wir wollen unsere Einzigartigkeit einbringen und unsere Potenziale entfalten…... .
Ganz schön viele Anforderungen, die ein Job erfüllen muss.
Aber muss er das denn wirklich?
Denn wenn der Beruf bzw. die beruflichen Aufgaben und/oder die Führungskraft bzw. das Unternehmen diese hohen Erwartungen nicht in unserem Sinne mit Sinn erfüllt, sind wir unglücklich und unzufrieden.
Möglicherweise überbetonen wir das, was der Job für uns selbst leisten soll, und vergessen dabei den immanenten Dienstleistungscharakter einer jeder beruflichen Tätigkeit?
An diese Stelle möchte ich einen Satz des Neurobiologen Gerald Hüther zitieren:
Krank werden viele Menschen deshalb, weil sie das, was sie krank macht, für etwas halten, das sie glücklich machen soll.
Krank durch Irrglauben?
Das scheint mir auch auf manche Berufstätigen zu passen: Sie schleppen sich täglich zur Arbeit. Diese Arbeit soll sie glücklich machen, und weil sie das nicht tut, werden (oder bleiben) sie unglücklich und erkranken.
Ohne die Vorstellung, dass die Arbeit sie glücklich zu machen hat, wären sie vielleicht offener für die kleinen Erfolge und dankbarer für die guten Momente - und somit zufriedener mit dem, was ihnen der Job tatsächlich bietet.
Nebenbei: Der Job und keine andere Person kann mich glücklich machen - das kann ich nur selbst tun.
Es gibt keine allgemeingültige „How to ikigai“-Liste, die man nur abzuarbeiten braucht,
um unter Garantie sein Ikigai zu finden, daraus einen Job zu kreieren
und damit reich, gesund und glücklich zu werden.
Ikigai ist deutlich komplexer und durchzieht das ganze Leben und die Lebensauffassung.
Daher lehne ich auch sämtliche simplen Methoden ab, die sich glücksverheißend Ikigai auf die Fahnen schreiben.
(Das ist vergleichbar mit jemandem, der ein Bagua sieht und glaubt, das wäre Feng Shui.)
3.4 Mit Ikigai-Methoden/Modellen findest Du Dein Ikigai
Ratgeber, Bücher und das Internet sind voll von Versprechen, die Dir suggerieren, dass eine einfache Grafik die gesamte Ikigai-Philosophie transportieren und Dir helfen kann, den Sinn Deines Lebens zu finden.
Diese weit verbreiteten Modelle mit 4 Feldern und begleitenden Fragen halte ich als Hilfestellung für eine berufliche Ausrichtung durchaus für sinnvoll.
Leider schießen Sie am ursprünglichen Gedanken des Ikigai vorbei.
Sie fokussieren, und das ist halt „westlich gedacht“, stark auf den finanziellen Aspekt, auf den (wirtschaftlichen) Nutzen für die Welt und das eigene Können.
Dabei das Ikigai eher zu finden
- in stetiger Übung und Verfeinerung,
- Optimierung und dem Streben nach Vervollkommnung
als in dem, was wir (glauben zu) beherrschen.
Und ich wiederhole: Es geht nicht um finanziellen Erfolg, Status oder Gewinn.
4. Diese Modelle haben nichts mit Ikigai zu tun!
Schreiben die im Internet eigentlich alle voneinander ab? Und dann auch noch lauter falsches Zeug?
Fast überall wird Ikigai mit einem solchen Venn-Diagramm beschrieben.
Damit hat Ikigai nichts zu tun.
Wer hat ’s erfunden?
Andrés Zuzunaga, 2012, ohne den Begriff Ikigai zu kennen.
Er wollte auf einfache Art darstellen, wie Menschen eine sinnvolle Arbeit finden, statt nur einem Geld-Job nachzugehen.
Dass ihm das gelungen ist, zeigt die mannigfache Verbreitung dessen, was dann 2014 die Überschrift Ikigai erhielt und nun fälschlicherweise mit dem Begriff verknüpft ist.
Dazu kam es, weil die Formulierung „Ikigai bezeichnet das, was einen motiviert, morgens aufzustehen.“ unreflektiert übernommen wurde.
Und nun geht es leicht adaptierbar und im Schnellverfahren um die Welt.
So glauben nun Millionen von Menschen einem Zerrbild:
Dass es bei Ikigai darum geht, etwas zu tun, das man liebt, in dem man gut ist, das die Welt braucht und für das man bezahlt werden kann.
Mehr dazu: https://finde-zukunft.de/blog/ikigai-psychologie-und-spiritualitaet
5. Wie finde ich mein Ikigai?
Im Buch "Ikigai - die japanische Lebenskunst" * von Ken Mogi, einem japanischen Hirnforscher, der das Prinzip wissenschaftlich betrachtet, (* Affiliate-Link zum Blick ins Buch bei amazon ) werden 2 einfach daher kommende Fragen empfohlen, die beim Finden des eigenen Ikigai helfen.
Wenn man sich ernsthaft damit befasst, haben sie es in sich:
- Was hat für mich den höchsten Gefühlswert?
- Welche kleinen Dinge machen mir Freude?
Und zum folgenden Text hat mich dieses Buch inspiriert, das mir dankenswerterweise mein Werte-Coach-Ausbilder Frank Sauer geschenkt hat, mehr von ihm: https://www.davinci3000.de/
6. Wie finde ich mein Ikigai im Beruf?
Hangeln wir uns bei der Frage an den oben bereits erwähnten 5 Säulen entlang:
6.1 Klein anfangen
...und dabei jeden Arbeitsschritt, jedes Detail bis zur Vollkommenheit ausführen.
Das steht im heftigen Widerspruch zu westlichen Strategien, um die Arbeit zu managen, wie z. B. dem Paretoprinzip.
Es wird auch 80-20-Regel genannt und besagt, dass 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20 % der Ergebnisse erfordern mit 80 % des Gesamtaufwandes die quantitativ meiste Arbeit. (Quelle:https://de.wikipedia.org/wiki/Paretoprinzip)
Dabei kann man durchaus in Frage stellen, ob es wirtschaftlich ist, den hohen Mehraufwand zu investieren, um ein 100 %-iges Ergebnis zu erreichen.
Beim Bestreben nach Vollkommenheit ist man
- nicht mit einem schnellen, guten Ergebnis zufrieden, sondern
- investiert seine ganze Anstrengung, Zeit und Energie,
mit dem (Neben-)Effekt, dass dadurch oftmals nicht nur die 100 % erreicht werden, sondern das Ergebnis die Erwartungen sogar deutlich übertrifft.
Und das hat im wirtschaftlichen Sinne durchaus die Konsequenz, dass ein solches Ergebnis auch mehr wert ist und besser bezahlt wird.
6.2 Im Hier und Jetzt sein ...
- ... ist verknüpft mit der oben beschriebenen akribischen Umsetzung von Aufgabenstellungen.
Denn auch, wenn Gewinnmaximierung kein Beweggrund ist - oder gerade dann, wenn keine finanziellen Absichten dahinter stehen -, kann das Streben nach Perfektion uns in den Flow-Zustand versetzen, in dem man in einem Schaffensrausch etwas Unerwartetes, Außergewöhnliches hervorbringt. Dann wird die Tätigkeit zum erfüllenden Selbstzweck.
- ... bezieht sich darauf, den aktuellen Moment in all seinen (schönen) Details wahrzunehmen und zu schätzen.
Wer jeden Moment aufmerksam beobachtet, wird – auch bei wiederkehrenden Tätigkeiten – feststellen, dass sich nichts wirklich wiederholt, sondern sich immer neue Situationen ergeben, die sich zumindest in Kleinigkeiten unterscheiden.
- ... hilft aus der Grübelfalle zu kommen.
Wenn Du wahrnimmst, dass Du nicht im Hier und Jetzt bist, sondern
- Dich wegen vergangener Situationen grämst, die Du nicht mehr ändern kannst,
- Dir über mögliche Zukunftsszenarien den Kopf zerbrichst, die Du noch gar nicht absehen und auch noch nicht bestimmen kannst,
dann halte kurz inne, atme bewusst ein und aus und frage Dich:
Wie geht es mir in diesem Moment?
Spüre in Dich hinein und und die Antwort wird besser ausfallen, als Du denkst.
6.3 Die Freude an kleinen Dingen entdecken
Verknüpft mit der Idee des „Klein anfangen“ und „Im Hier und Jetzt sein“ bezieht sich dieser Punkt darauf,
- sich an kleinen Dingen zu erfreuen und
- sich gegebene Umstände durch aufmerksames Wahrnehmen solcher kleinen Freuden – auch bewusst und absichtsvoll – in jedem Moment so angenehm wie möglich zu gestalten
Rituale und Routinen, die gut tun und für Wohlbefinden sorgen, sind geeignet, die eigene Wahrnehmung dahingehend zu schulen, Schönes zu entdecken und Dankbarkeit zu entwickeln. Nach dem Motto: Das Glück ist kein Dauerzustand sondern eine Aneinanderreihung von glücklichen Momenten.
Ein Beispiel:
Durch einen Umzug hat der Weg zur Arbeit sich deutlich verlängert.
Die neue Routine, in der Zeit Hörbücher oder Podcasts zu hören, kann diesen Umstand zum Vergnügen machen.
6.4 Loslassen lernen
… findet sich in allen vorhergehenden Ideen wieder:
Loslassen von
- Erwartungen,
- Sorgen,
- Gedankenspielen,
- negativen Einstellungen,
- Erfolgsdruck,
- Stolz,
- Absichten,
- Anerkennung,
- Belohnung,
- dem eigenen ICH,
- ….
Das eigene ICH beim Anfangen im Kleinen, im Flow des Hier und Jetzt, loszulassen,
macht die spezielle Arbeitsethik des Ikigai aus.
Dann geht es nicht mehr um persönliche Anerkennung für ein Arbeitsergebnis. Die bleibt im realen Berufsleben ohnehin oft genug aus.Und wenn man keine Anerkennung erwartet, ist man auch nicht enttäuscht, wenn man sie nicht bekommt.
Sondern es geht darum, auch ohne „Publikum“ und „Applaus“ stets das Beste zu geben und höchstmögliche Qualität anzustreben.
Dazu gehört auch, damit aufzuhören, sich zu beklagen, und statt dessen das zu akzeptieren, was man bekommt – mit der Vorstellung, dem auch gewachsen zu sein. Oder: Was uns nicht umbringt, macht uns härter.
6.5 Harmonie und Nachhaltigkeit leben
Harmonie ist das Kernelement von Ikigai.
Auch wenn Ikigai eine individuelle, motivierende Geisteshaltung ist, das eigene Leben, und die Arbeit, zu meistern, gilt es, zu bedenken, dass wir in einer Gesellschaft leben.
In Harmonie zu leben, bezieht sich auf
- die eigene Umgebung,
- die Menschen im eigenen Umfeld und
- die gesamte Gesellschaft.
Harmonie erfordert daher
- die angemessene Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen und
- Klarheit darüber, dass unsere Handlungen Auswirkungen haben, die über uns selbst hinausgehen und nachfolgende Generationen betreffen oder gar schaden können.
Soziale Sensibilität ist ein entscheidender Faktor für das gedeihliche Zusammenleben im Allgemeinen und die Arbeitsleistung von Teams im Beruflichen.
Dieses Harmonie-Verständnis ermöglicht Nachhaltigkeit.
7. To be continued
Ja, das Thema hat mich gepackt. Es wird hierzu demnächst weitere Posts geben.
Danke für diesen tollen Artikel und für die Klarstellung zum „Trend-Begriff“ Ikigai. Das hat mir einige interessante neue Aspekte gezeigt und das Thema über die bloße (Traum)jobsuche heraus erweitert. Ich freue mich auf weiteren Input dazu!